Drachen |

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Drag-en führte Dorian zu einem Meer, dessen Wellen sanft am Ufer
plätscherten. Dort rollte er sich ein und forderte den Jungen auf
sich hinzusetzen.
"Was geschieht hier?", fragte Dorian.
"Wir werden hier warten!"
"Auf wen denn?"
"Habe Geduld!"
Seufzend setzte sich Dorian und wippte ungeduldig mit den
Füßen. Je länger er wartete desto schläfriger wurde er. Da
stupste der Drache ihn an.
"Es beginnt!"
Wolken waren aufgezogen und verdüsterten den Himmel. Die Wellen
brandeten nun hochaufspritzend auf den Strand oder donnerten gegen
die Felsen. In der Ferne nahm er eine Bewegung war. Irgendetwas
schien auf der Wasseroberfläche zu gleiten. Zunächst nur ein Punkt
am Horizont wuchs es mit jeder verstreichenden Sekunde an. Dorian
schmiegte sich ängstlich an Drag-en an als er erkannte, welch ein
Ungeheuer dort auf dem Meer tobte. Ein vielköpfiges Seeungeheuer
war es, aus dessen Nüstern Rauch kam. Schließlich spieen die
Köpfe riesige Feuerflammen aus ihren Rachen. Schaurig war sein
Schrei, der vom Ufer her Erwiderung fand. Ein Mischwesen stand dort,
in dem sich Elemente eines Stiers und eines Nilpferdes
vereinigten.

"Schau, Leviathan begrüßt Behemot."
Blitze zuckten am Himmel und ein kalter Hauch lag über der Welt.
Dorian fror, so dass seine Zähne leise aneinander klapperten.
"Wer
sind denn diese beiden?"
"Leviathan findest du in der Bibel. Auf herbräisch
heißt sie Liwjatan. Sie verkörpert den Urozean und die
Mächte des Chaos, das Böse. Ihr männliches Gegenstück ist
das Landungeheuer Behemot. Er ist die Verkörperung brutaler
Gewalt, die nur von dem Gott Jahwe gebändigt werden kann. Wenn
die Endzeit kommt, dann werden sie geschlachtet und den
Gerechten als himmlische Speise vorgesetzt werden.
Noch an vielen anderen Stellen werden Drachen in der Bibel
erwähnt, zumeist als Seeungeheuer."
"Die gefallen mir aber gar
nicht.", bibberte der kleine Junge.
Da lachte der Drache leise und umfing ihn schützend mit seinen
Schwingen.
"Du brauchst keine Angst zu haben, denn du stehst unter
meinen Schutz. Doch auch mir wird es hier zu ungemütlich. Darum lass
uns den Weg dort hinauf gehen. Es gibt noch mehr meiner Art zu
entdecken."
Wie eine Rakete schoss Dorian den Weg hinauf, froh diesem
unwirtlichen Ort entkommen zu können. Drag-en tapselte schmunzelnd
hinterher. Als sie oben auf dem Hügel angekommen waren, hatte die
Wolken sich verzogen und die Sonne schien nun wieder fröhlich
herab.

"Puh, das war aber ganz schön unheimlich!"
"Nun, die Drachen symbolisierten nach der westlichen
Vorstellung das Böse. In vielen Schöpfungsmythen waren
sie Seeungeheuer, die für Chaos oder den Teufel standen. Aber es
gab auch die mächtigen, feuerspeienden und mit riesigen
Fledermausflügeln ausgestatten Drachen. In den Märchen und Mythen
waren diese sehr niederträchtig und blutdurstig. Sie raubten
Jungfrauen und hausten in Höhlen, in denen sie die gestohlenen
Juwelen und Goldstücke verbargen. Edle Ritter und Helden brachen
auf, um im Kampf gegen den Drachen zu bestehen. Ein berühmter
Drachentöter aus der Nordischen Mythologie war Beowulf, dem es im
hohen Alter gelang, einen feierspeienden Drachen zu töten. In der östlichen
Mythologie haben dagegen die Drachen einen ganz anderen
Stellenwert."
Sie waren mittlerweile in einem wunderschönen Garten angelangt,
in dessen Mitte ein Brunnen plätscherte. Vögel ließen sich an
dessen Rand nieder und tranken daraus. Auf einmal war ein Fauchen in
der Luft zu hören und ein riesiger schuppenbedeckter Lindwurm
schob sich auf seinen vier krallenbewehrten Füssen durch das
Gebüsch. Mit einer Stimme, in der Donnergrollen lag, begrüßte er
Drag-en. Beide rieben sie ihre Schnauzen aneinander. Dann
beschnupperte er Dorian und brummte ihn freundlich an.

"Dies ist Lung, ein Bruder aus dem fernen China. Ich habe
ihn gebeten, dir ein wenig von seiner Art zu erzählen."
"Sei
mir gegrüßt, Dorian. Es gibt vier Arten der Lungs, die
unterschiedliche Aufgaben haben. Die Himmelsdrachen (Tien-Lung)
bewachen die Wohnstätten der Götter. Die Drachengeister (Shen-Lung)
herrschen über Wind und Regen. Die Erddrachen (Ti-Lung)
halten die Flüsse rein. Die Unterweltdrachen (Fut's-Lung)
hüten die Schätze der Erde. Wir sind freundliche Geister,
die den Menschen wohlgesonnen sind und ihnen Glück und
Wohlstand bringen. Der kaiserliche Drache repräsentiert als
Sohn des Himmels den Kaiser Chinas. Im Gegensatz zu den
vierklauigen Lungs hat dieser fünf Klauen."
"Also dass mit dem
kaiserlichen Drachen verstehe ich aber nicht."
"Yu war aus dem
Körper seines Vaters halb als Drache und halb als Mensch geboren
worden. Er war der Herr der Flut. Jahrelang mühte er sich ab, das
Wasser in Flüsse zu betten und ins Meer fließen zu lassen. So
entwässerte er das Land, welches fortan kultiviert werden konnte. Aus
Dankbarkeit für seine großartige Tat überließ man ihm freiwillig den
kaiserlichen Thron. Von da an wurden alle folgenden Kaiser als
Inkarnation des Drachen Yu betrachtet.
Nun muss ich euch jedoch wieder verlassen."
So sprach Lung und
verschwand in den Büschen.
"Ich glaube, du hast
nun genug über Drachen gehört. Lass uns unsere Reise fortsetzen. Es
gibt noch so viel zu entdecken!"
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